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Mein Hörtipp: Ensemble Peregrina: Pomerania – Music from northern Germany and Poland (14. -15. Jahrhundert)

Mit der vorliegenden CD aus dem Projekt „Mare Balticum“, in dem das musikalische Erbe der Ostseeregion des 12. bis 15. Jahrhunderts hörbar und damit auch bewahrt werden soll, liegt nun der 4. und damit letzte Teil vor. Er führt die Zuhörer:innen in die nördlichen Gebiete Polens und Deutschlands: in das historische Pommern.

In Pommern trafen schon früh verschiedenste Kulturen, Gesellschaften Religionen und politische Richtungen aufeinander. Die Auswahl der hier aufgenommenen Stücke versucht genau diese Vielfalt und deren geschichtliche Hintergründe in und durch die Musik aufzuzeigen.

Musiziert vom „Ensemble Peregrina“, das 1997 von der polnischen Sängerin und Musikwissenschaftlerin Agnieszka Budzinska-Bennet in Basel gegründet wurde, finden sich hier echte Spezialisten zusammen, die geistliche und weltliche Musik aus dem Europa des 9-14 Jahrhunderts wiedergeben. Das Ensemble orientiert sich an den originalen Quellenmaterialien und Traktaten und berücksichtigt dabei die neuesten wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse.

Ist diese CD nur etwas für Liebhaber der „Alten Musik“? Ja und nein. Ja, weil sie diese mit spannenden neuen Werken überrascht und nein, denn die CD kann auch für Musikliebhaber:innen, die diese große musikalische Zeitspanne bei ihrer eigenen Auswahl bislang vielleicht noch nicht berücksichtigt haben, einen unheimlich spannenden Einstieg bieten.

Im Jahr 2019 in der Schweiz aufgenommen, bietet diese CD übrigens eine zusätzliche klangtechnische Besonderheit: Die SACD wurde im „TACET Real Surround Sound“ aufgenommen, kann aber über jeden CD/SACD Player im Zweikanalsound abgespielt werden. Auch in dieser Wiedergabetechnik klingt das fast 80 Minuten lange Album hervorragend. Da ich kein Surround System habe, kann ich über deren ggf. bestehenden Klangvorteile nichts sagen.

Kommen wir zur Musik. Ich will ehrlich sein, ich bin seit über 25 Jahren ein großer Liebhaber Alter Musik, so dass mir der Zugang zu diesen Werken, die mir alle unbekannt waren, leichtfällt. Wie gesagt, können aber alle Menschen, die offen sind für diese so abwechslungsreiche Musik, vieles Neues erleben.

Das Ensemble Peregrina tritt nun schon seit fast einem viertel Jahrhundert in vielen Staaten der Erde mit seinem Repertoire auf und gilt wohl zu Recht für viele als eines der führenden in diesem Genre. Die Musiker:innen stammen aus vielen Ländern, u.a. aus Polen, Deutschland, Finnland und Frankreich, und gerade diese Weltoffenheit und die unterschiedliche Herkunft sorgen für eine wundervolle Vielfalt und eine ganz besondere Dynamik des Ensembles. Sie schaffen etwas, dass nur einige CDs von vielen anderen im Markt erheblich unterscheidet: Die Erlebbarkeit der Musik unter Berücksichtigung der historischen Hintergründe, ohne dabei jedoch fremd zu wirken oder gar in eine aufgrund der in vielen Jahrhunderten entstandene vielfältigen und dennoch aus heutiger musikalischer Erwartung ungewöhnlichen Musik in viel zu enge Schubladen gedrängt zu werden.

„Peregrina“ bedeutet übrigens die „Umherziehende“ und spielt damit auf den Musik- und Ideentransfer im Mittelalter in ganz Europa an. Viele verschiedene Kulturen tauschten Ihre eigenen musikalischen Entwicklungen mit denen anderen aus und entwickelten so sowohl die eigenen als auch die der anderen ständig weiter. Ein solcher Erfahrungs- und Wissensaustausch dauerte natürlich viel länger als z.B. im 17. oder 18 Jahrhundert. Die intensive Beschäftigung der Menschen mit den musikalischen Ideen anderer Länder, Gesellschaften, Glaubens- und Kulturkreisen war jedoch viel intensiver, denn die Musik war in dieser großen Zeitspanne etwas sehr Besonderes und lebte allein von der individuellen Wiedergabekunst sowie den Aufführungen selbst. Konzerte, so wie wir sie heute kennen, gab es nicht.

Die hier ausgesuchten Werke werden authentisch aber niemals langweilig wiedergegeben und bieten einen sehr leichten Zugang in die nicht immer einfachen Kompositionen und ihren Aufführungsstrukturen. Besonders auffallend ist die Kunst der einzelnen Stimmen auch in hohen Passagen nicht über die Gebühr laut zu singen. Im Gegenteil, viele Klangfarben, feinste tonale Schattierungen und zahlreiche gefühlvolle Nuancen ziehen die Zuhörer:innen in die zum großen Teil fast schon meditativ wirkenden Kompositionen. Keine vordergründigen Effekte, stattdessen viel harmonischen Miteinander, geprägt von dem hörbaren Wunsch gemeinsam diese sehr besonderen Werke auch heutigen Hörgewohnheiten näherzubringen.

Musik aus dem 13., 14 und besonders dem 15. Jahrhundert stellt Musiker:innen vor große Herausforderungen. Unvollständige Aufzeichnungen oder Kenntnisse über die konkrete Art der Aufführung sind selten vollständig vorhanden. Es ist erforderlich, sich sehr genau mit der Geschichte der Kompositionen und deren Einbindung in die Zeit ihres Erschaffens zu befassen. Das ist nicht einfach, und so können z.B. bereits die meisten Manuskripte in der Regel nur in größeren Bibliotheken, u.a. an Universitäten, eingesehen werden.

Neben der menschlichen Stimme setzt das Ensemble Peregrina die zu erwartenden Instrumente ein, u.a. eine Harfe, Traverse Flöten und historischen Fiedeln. Führend ist aber die Stimme und damit der Chor, der insbesondere auch mal düstere Affekte wunderbar nachvollziehbar wiedergibt und so Annäherungen an die Intentionen der Komponisten der jeweiligen Zeit ohne Überforderungen der Zuhörer:innen möglich macht. Die Chorstimmen sind deutlich differenziert, klar und verständlich. Man hört sehr individuelle Timbres und dennoch eine übergeordnete und von großer innerer Harmonie geprägten Gemeinsamkeit im Gesang und im Klang.  

Eine berührende und sehr emotionale Umsetzung dieser viele Jahrhunderte alten Werke, die so hoffentlich neue Liebhaber:innen finden und vor dem Vergessen bewahrt wird. Diese Musik berührt die Seele, sie wirkt aktiv auf Sie ein, sie fesselt, beruhigt und fördert durch ihre besonderen schwebenden Strukturen, ihre stimmliche Balance und eine große Klangschönheit eine besondere Form einer Achtsamkeit.

Unbedingt anhören!

 TACET S 273

https://www.peregrina.ch/

https://de.wikipedia.org/wiki/Agnieszka_Budzi%C5%84ska-Bennett

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