| | | | |

Mein Hörtipp: David Murray, Brad Jones, Hamid Drake: Brave New World Trio

Ende November 2021 gingen die 3 Musiker in Winterthur ins Studio um diese Platte einzuspielen. Aber keine Sorge, es ist keine CD mit besinnlicher Adventsmusik. Im Gegenteil: Von der ersten Sekunde an zeigen die 3, welche Energie ein Trio entfachen kann. Alle 8 Stücke stammen von Murray, dessen Saxophon und Bass Klarinette die Melodien und die Töne in neue Sphären führt. Brad Jones am Bass und der absolut großartige Hamid Drake am Schlagzeug bilden eine Basis, wie in Stein gemeißelt und dennoch so schnell, interaktiv und impulsiv, dass einem an einige Stellen schon fast etwas schwindelig wird. Das ist Jazz dieser so herausfordernden Gegenwart, mit akustischen Ausblicken in die Zukunft. Der Titel, entliehen von Huxleys Werk Brave New World, ist Programm und diese drei Musikvisionäre verstehen sich offenbar blind und wollen alle in eine Richtung. Nach vorne. Immer!

An einigen Stellen meint man hören zu können, in welcher Zeit dieses Album entstanden ist. Die meisten Musiker:innen waren gerade im Winter letzten Jahres wohl am Ende ihrer Kräfte, hatte doch die Coronapandemie und deren gesamten Beschränkungen bei vielen zu zum Teil desaströsen persönlichen und wirtschaftlichen Zuständen geführt. Und genau in diesem Moment wurde diese Platte eingespielt. Jazz, der zeigt: Es geht doch, wir leben und wir spielen weiter! Und wie!

Und gerade Murray ist es immer wieder, der von harmonischen und zum Teil sogar leicht swingende Phasen in den freien und, ja, man kann es so nennen, aggressiven Gestaltungsraum eintritt und sich dort wie in einer kurzen Performance musikalisch immer wieder neu definiert. Flehende Schreie mit Vibrato und atemberaubenden Tempo- und Dynamikwechseln fließen über in einfache klang-organische Strukturen, um nur wenige Sekunden später, ohne dass man dies erahnen könnte, wieder in eine völlig neue Sicht auf die Entwicklung des jeweiligen Songs zu entweichen. Intuitive Plots mit Parts höchster Improvisationskunst. Das ist mehr als Jazz, das ist eine Form moderner Kunst.

Dieses Album wühlt auf, nimmt einen gefangen, verschluckt alle Sinne und spuckt einen am Ende quasi wieder aus. Man muss das Gehörte, das Gefühlte verarbeiten, das was man gehört hat sinnlich begreifen und versuchen zu verstehen wie es auf einen gewirkt und einen verändert hat. Und dann will man mehr davon. Die Energie der Aufnahme springt über und lässt einen schließlich in einer beruhigten Erregung zurück.

Phantastisch! Ein Meisterwerk!

Erschienen bei intakt

http://www.intaktrec.ch/

Ähnliche Beiträge